Am Tor

Hinter dem Tor spürten sie sie kommen. Wie sich Zeulanis mächtige Tatzen in die rote Erde krallten und sich den Weg immer weiter hinein in die andere Welt bahnten. Dann hörten sie ihre geflüsterten Stimmen. Zeulani, die zwei Menschen auf ihrem Rücken trug.
»Gute Seelen?«, raunte Nema.
»Besser als das, was sonst zu uns kommt«, kicherte Ranes dunkel, der sich am weitesten an das Tor herangewagt hatte. Er schnüffelte durch seine stierartigen Nüstern, »Ein Mädchen und ein Junge. Aber keine Jungfrauen.«
»Liebende?«, verlangte ein anderer herannahender Dämon zu erfahren.
»Spielende«, grinste Ranes lustvoll.

Zeulani kam ein paar Schritte vor dem steinernen Durchgang zum Stehen.
»Ab hier müsst ihr allein gehen.«

Anina stieg ab, und sobald ihre schlanken Füße die Erde berührten, schien Zeulani Meros Gewicht nicht mehr zu ertragen. Doch ehe sie ihn unsanft abschütteln konnte, war er schon geschickt hinabgesprungen.
Anina wagte sich ein paar Schritte nach vorn. Schaudernd blickte sie auch die staubigen dunkelroten Steinformationen um sich herum. Gewahr die Kälte in der Luft trotz des heißen Bodens unter ihren Schuhen.
Sie schüttelte sich und wandte sich an die Tigerin, um ihr einmal mehr zu danken. »Zeulani, dass du uns hierher getragen hast ...«
»Du hast dich bereits erkenntlich gezeigt, Anina. Nun geh, du hast nicht mehr viel Zeit.«
»Wirst du auf uns warten?«
»Das überlege ich mir« und ihr Maul umspielte ein Schmunzeln.
Mero kam neben ihr und sie fasste seine Hand. »Danke, dass auch du bei mir bist!«, sagte sie gefasst. Er lächelte und sie gingen ein Stück weiter dem Tor entgegen.
Als er sicher war, dass sie aus Zeulanis Hörweite waren, flüsterte er: »Ich frage mich nur, wozu du mich brauchst, wenn du dich mit allen Bestien anfreundest, die unseren Weg streifen.«
Anina blickte zu ihm auf. Es war der gänzlich unpassende Zeitpunkt, doch wie so oft auf dieser Reise klopfte wieder die Begierde an ihre Pforte. Wenn er nur wüsste, auf welche Art er ihr eine Hilfe war ...
»Wer da?«, donnerte plötzlich eine Stimme aus dem nichts.
Mero stellte sich instinktiv vor sie.
Nirgendwo erschien ein Besitzer dieser gegrollten Frage und so rief er dem steinernen Tor entgegen: »Ich bin Mero vom Seevolk, Sohn der Besa und dies ist Anina, Tochter der seligen Rana der Großen.«
Beim Namen ihrer Mutter krampfte Aninas Herz, aber sie kämpfte gegen die Tränen an. Wieder musste sie tapfer sein. Für sie, für sich.

Nema, der Dämon der Unterwelt, verzog sein vernarbtes Gesicht zu einem Grinsen: »Ich nehme den Jungen.«
Ranes, der Dämon der Verderbnis, raunte zurück: »Das Mädchen gehört mir!«

»Was ist euer Begehr?«, dröhnte nun die Stimme.
Ehe Mero etwas sagen konnte, stellte sich Anina neben ihn. »Ich rufe die Götter des Todes um Gnade für meine Mutter an. Die Stammesbewohner wollen ihr natürliches Sterben nicht anerkennen und sie nicht neben ihrer Familie begraben. Sie akzeptieren nicht, dass unser Häuptling Hilfe zum Tod hatte.
»Und wer hat ihrem Sterben geholfen?«, rief die Stimme böse.
Anina schluckte und entgegnete mutig: »Ich. Ich habe sie von ihrem Leid erlöst und ihr ein Mittel gegeben.«
Im nächsten Moment schwangen die Türen des Steintores auf und vor ihnen wirbelte eine mannshohe Wolke aus rotem Staub. »Anina vom Seevolk. Bist du bereit die Prüfung anzunehmen?«
»Ja!«, sagte sie daraufhin fest und kam ein paar Schritte auf die Gestalt zu.
Als sich noch immer kein Körper geformt hatte, die Staubkörner aber langsamer tanzten, wagte sie sich durch das Tor hindurch, näher an die hohe Figur heran. Sie spürte Mero hinter sich, der sein Messer erhoben hielt. Sie wandte sich ab und bedeutete ihm, es herunterzunehmen.
Dann brach die Gestalt einer jungen Frau aus der Wolke heraus. Sie trug eine prächtige Blumenkrone, ein schweres blutrotes Gewand und ihre Haut war noch dunkler als die von Anina.
Sofort erkannte die beiden Seevolk Bewohner sie. Es konnte sich nur um Lani handeln, die Göttin des Lebens, Beschützerin der Neugeborenen. Ihre Gestalt erschien gebärenden Frauen, spendete ihnen Kraft und ermutigte sie, durchzuhalten. Im Frühling brachte man ihrem Schrein Opfergaben dar und feierte die ersten Krokusse und Weidenkätzchen mit einem vier Nächte währenden Fest des wieder erwachenden Lebens. Und nun war sie hier erschienen. In der Unterwelt bei den Göttern und Dämonen des Todes.

»Ein schwerer Test!«, stellte Nema trocken fest.

»Anina vom Seevolk«, rief Lani, »ich habe vernommen, dass du das Leben deiner Mutter frühzeitig beendet hast, nur weil sie Schmerzen hatte. Das Leben ist voll Schmerz und Leid und dennoch feiern wir es. Wie kommst du dazu, es ihr zu nehmen?«
Genau mit diesen Worten hatte das Seevolk es abgewiesen, ihrer Mutter zu helfen.
»Das Leben meiner Mutter war und ist mir zu kostbar, als dass ich ihr diese Bürde noch weiter antun konnte. Sie flehte uns an, es zu beenden und ich war die Einzige, die sie erhörte.«
»Du gibst also zu, dass du egoistisch gehandelt hast?«, donnerte Lani nun.
»Egoistisch?«
»Du konntest ihr Leid nicht mehr mit ansehen und hast dich deiner Aufgabe frühzeitig entledigt.«
»Nein!«, schrie Anina sofort, »ich habe sie erlöst. Meine Mutter hat ihr Leben tapfer verbracht, hat uns Kinder zu guten Kriegerinnen erzogen, hat unseren Stamm geeint und den Hass geheilt. Sie hatte es nicht verdient, noch monatelange dahinzusiechen. Das hätte niemand. Leben nur um des Lebens willen, ist kein Leben!«
»So kommst du also, weil du ein schlechtes Gewissen hast? Weil du genau weißt, dass du falsch gehandelt hast!«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen, ja«, sagte Anina fest und spürte Meros Hand in ihrer. Sie drückte sie kurz und ließ dann los. »Aber ich weiß, dass ich das richtige getan habe. Und nun bin ich hier, Lani, Göttin der Lebensspenderinnen, um dich um dein Einsehen zu ersuchen.«

»Nun will ich auch das Mädchen!«, grinste Nema.

Lani lächelte, doch ihr Mund verzog sich schnell zu einem wütenden Grinsen. »du meinst, ich könnte dein schlechtes Gewissen heilen? Könnte dir nehmen, was du angerichtet hast?«
»Nein!«, rief Anina nun voller Inbrunst, »ich bin für meine Mutter gekommen. Ich hoffe, dass sie irgendwo ist und es ihr gut geht. Oh, ich vermisse sie schrecklich. Ich bin für sie gekommen, damit du ihren Tod anerkennst, damit man ihren Körper in Frieden ruhen lässt. Mein schlechtes Gewissen kannst du mir nicht nehmen, Lani. Das kann niemand. Ich werde damit leben, in dem Wissen, dass es nicht halb so furchtbar ist, wie das was ich meiner Mutter erspart habe.«
Lani lächelte nun und sah daraufhin auf den Boden. Als sie wieder aufblickte, trug sie ein anderes Gesicht. Das Gesicht Ranas vom Seevolk.
»Hast du.«
Dann löste sich die Gestalt auf und ein Amulett blieb zurück. Es trug das Zeichen von Yindalu, der Urmutter und Göttin des Schicksals. Vorsichtig hob Anina es auf und eine Flüsterstimme drang in ihr Ohr. »Nimm es und lass es ihren Leichnam tragen. Niemand wird sich dir in den Weg stellen, wenn du deine Mutter zu Grabe trägst. Sie werden nicht vor dir stehen, sie werden hinter dir laufen und deine Tapferkeit feiern.«