Laufen wie ein Mädchen

»Lauf!«

Und ich laufe und laufe. Der Befehl kam aus mir heraus.
Ich atme ruhig, mir ist heiß. Ich spüre meine Muskeln, wie sich meine Oberschenkel unter dem Stoff immer wieder anspannen.
Die eine Sohle trifft den Waldboden, dann die andere. Drei Schritte - einatmen, drei Schritte - ausatmen.
Vögel singen, die Luft ist unglaublich. Rein nach dem Regen.
Musik im Ohr. »Work Bitch!«, brüllt Britney mir ins Ohr und das tue ich. Immer weiter.

 

Ich sehe mich selbst vor 20 Jahren.
Klein-Claudi sitzt als Letzte auf der Bank, als die Mannschaften für Völkerball gewählt werden.
Claudi, die als letzte ins Ziel läuft, die es nie schafft, die Stange hochzuklettern, die schuld ist, wenn ihre Gruppe beim Staffellauf verliert. Die für ihre ungelenken langen Glieder belächelt wird. »Dünn und groß«, betitelte mich der Sportlehrer, »Ausdauer und Kraft hat Se halt keine.«
»Muße ja auch nicht«, erwiderte die Klassenlehrerin und sah mich mitleidig an, »is eben n Mädchen!«

Das Mädchen von damals hat heute definierte Oberarme. Das Mädchen, dessen Beine mehr als ihr Eigengewicht wegstemmen.
Wie gerne würde ich meinen Lehrern von damals auf die Schnauze hauen. Ihnen zeigen, was ich beim Body-Combat und Wing Tsun gelernt habe. Seitdem mir meine Lehrer endlich Antrieb geben, mich ermuntern auszuprobieren. Und mich dann nicht stoppen wollten.

 

Das Mädchen, das die Bücherkisten in den 4. Stock schleppt.
»Sieht man dir gar nicht an, dass du so anpacken kannst«, sagen die andern Umzugshelfer.
»Warum nicht?«, frage ich gereizt und vermute schon, weil ich ein Mädchen bin.
»Du siehst eher wie so ne Intellektuelle aus. Aber is doch geil, wenn de beides kannst!«

»Lauf!«, erklingt es wieder und ich laufe.
Meine Muskeln brennen aber ich laufe weiter - laufe wie in Mädchen. Zielgerichtet, ausdauernd, den Schmerz ignorierend. Ja, das ist schon ein bisschen geil.