Ein Jahr

Gestern las ich "Das Lavendelzimmer" von Nina George aus.

Die Geschichte von Vic und Max hatte es mir besonders angetan und ich habe mir vorgestellt, wie das so war, als er ihr ein Jahr lang den Hof machte. Wollt ihr es auch wissen? Dann warne ich alle, die das Buch noch lesen wollen (UNBEDINGT!) und ein sehr gutes Gedächtnis haben - der Text enthält jede Menge Spoiler!

Hab das übrigens schnell runtergeschrieben. Für die Richtigkeit des Französischen und allen Buchdetails, kann ich also nicht wirklich garantieren (weil das Lavendelzimmer zuhause ist, ich aber nicht).

Madame betrat den Taubenverschlag und fand Maxens Bett wie jeden Morgen verschwitzt, zerwühlt und leer. Das krisselige Laken, das platt gerollte Kissen, die verknotete Bettdecke zeugten von seinem allnächtlichen Kampf – der eines liebestrunkenen Mannes. Sein Schreibtisch: voll mit halbvollen Notizzetteln, Kaffeetassenrändern, Tränen. Überall Spuren von seinem gebrochenen Herzen -wohl eher einseitiger Zuneigung, aber er verstand es gut, zu leiden- aber keine Spur von Max.

Madame seufzte schwer, konnte nicht anders als wenigstens die Bettdecke aufzuschütteln und ein für alle Mal zu beschließen: Der Junge braucht Ablenkung!

Noch vor dem ersten zartrosa Sonnenstrahl über den Weinbergen war Max Jordan aufgebrochen, die Steigen hinaufmarschiert, die allmählich auch seine Waden muskulös werden ließen und in die Victoria Hänge gepirscht. Von weitem hörte er schon ihren Traktor. Der morgendlichen Kühle trotzend trug Vic die sonnengebleichten Shorts, das fleckige bordeauxrote Top von gestern und ihre Gummistiefel. Der Rest ihres starken, gebräunten Körpers lag frei. Noch klemmte ihr Basecap zwischen ihren strammen Schenkeln, ihr langes dunkles Haar flatterte im Wind. Behände lenkte sie das Ungetüm von Fahrzeug um die Ecke, grinste als sie ihren Serviettenbenutzer erblickte, spukte den Kaugummi vor seine Füße und bremste dann den Traktor. Die Muskeln ihrer Oberarme kamen noch mehr zum Vorschein, als sie die Handbremse anzog, und Max aufspringen ließ. Vor einer Woche noch hatte er Glück, wenn sie wenigstens langsamer fuhr, damit er hinaufklettern konnte. Aber dann war er gefallen, hatte sich das Knie aufgeschrammt und das hatte sogar ihr leidgetan.

„Bonjour ma belle Vic!“, sülzte er grinsend wie ein Sonnenkönig

„Salut Stadtkind“, lächelte sie und warf den zweiten Gang rein. Der Erste klemmte. Sie gab Gas und fuhr an, sodass es beide ruckartig nach hinten zog. „Ich muss das mal reparieren“, befand sie.

Sie fuhren den Pass hinauf, Vic parkte den Traktor an der gleichen Stelle wie jeden Morgen, und sie liefen die letzten Meter zu Fuß. Auch heute bot Max ihr an, den Rucksack mit dem Frühstück zu tragen und Vic verneinte. Den schmalen Weg mussten sie hintereinander gehen. Max betrachtete verstohlen ihre Rückansicht, die dicken Waden, den kleinen Po, ihr definierter Rücken unter dem Top, die breiten Schultern. Vic war un peu größer als er und ihr Kreuz breiter, ihre Oberarme dicker, die Haut braungebrannt von 21 Jahren provenzalischer Sonneneinstrahlung. Vorgestern hatte er sie gesehen, wie sie mit einem Jungen, der das Pendant zu ihr bildete, rumgeknutscht hatte. Natürlich hatte es ihn verletzt, aber er hatte kein Recht, sie danach zu fragen. Natürlich nagte es an seinem maroden Herzen und er musste sie unbedingt danach fragen. Sie setzten sich nebeneinander auf die kleine Holzbank, sahen über die Weinberge ins Tal, genossen den morgendlichen Wind.

„Was hast du denn?“, fragte Vic mitten in ihr schönes Schweigen hinein.

„Was? Ich bin wie immer.“

„Non, du bist heute anders leise als sonst.“

Max sah sie an. Erst einen halben Sommer und dennoch kannte sie ihn so gut! „Was ist das mit dir und Raoul?“, fragte er unvermittelt.

„Machst du dir Sorgen?“, sie wunderte sich gar nicht, dass er davon wusste.

„Ja. Ja, Vic, ich mache mir Sorgen!“

Anstatt dass ein Wortgemenge zwischen ihnen aufkam, statt Vic ihm vorwarf etwas von ihr zu verlangen, was ihm nicht gehörte, anstatt er laut befürchtete, er müsse etwas teilen, was nicht mal im Ansatz seines war ... Dass sie so wäre wie Manon, aber er nie wie Luc oder Jean. Stattdessen sah er sie einfach nur an und sie sah zurück.

„Mach dir keine Sorgen!“, sagte sie ernst. Dann lächelte sie und wiederholte: „Mach dir keine Sorgen.“

Sie wich seinem Blick aus, und holte dann das Frühstück hervor. Beherzt biss sie in das warme Croissant, er nahm einen rotweißen Apfel aus dem Rucksack, teilte ihn mit ihrem Taschenmesser und reichte ihr die Manonhälfte.

Ohne zu zögern versenkte sie ihre Zähne darin, Blätterteig und Fruchtsaft hingen an ihren trockenen Lippen.

„Maman hat mir meines und ihr Leben geschenkt, Max. Ich koste es aus. Ich werde es nutzen, ich werde es lange, lange genießen. Es ist zu wertvoll, doppelt wertvoll, als dass ich mich festlege.“

„Ich weiß, Vic“, flüsterte er.

„Ich will … ich brauche meine Zeit.“

„Ich werde warten.“

Den Weg zurück lief er voran. Sie betrachtete seine schmalen Schultern, die hellen Ränder, die unter seinen T-Shirt Ärmeln hervorlugten. Überhaupt seine weißen, weichen, dünnen Arme. Eine Hand umklammerte den leeren Rucksack. Seine Klavierhände. Seine schlanken, wunderschönen Finger. Er war so ganz anders als die provenzalischen Jungen!

Vic fuhr zur Arbeit, Max lief wieder zurück zum Taubenverschlag. Heute, heute endlich würde er ein paar Seiten schreiben, anstatt nur wirres Zeug, Ideenklumpen auf fleckige Blätter zu schmieren. Doch Madame erwartete ihn am Gartentor.

„Hätten Sie wohl einen Augenblick mir zu helfen, mon cher? Schauen Sie dort, der Fensterladen ist schon lange lose. Mein Mann tut sich so schwer auf der Leiter …“

„Reden Sie nicht weiter, ma chére Madame!“, versicherte Max freundlich und holte die Leiter und den Werkzeugkasten aus dem Schuppen. Von dort oben sah er den Dreck in den Regenrinnen, dann ein paar morsche Schindeln und oben auf dem Dach, dass ein Ziegel im Schornstein fehlte. Und so wurden aus dem Augenblick Hilfe ein fester Bestandteil seines Alltages. Er schaffte vormittags für seine Gastgeber, Unkraut jäten, den Pool reinigen, die Obstbäume beschneiden. Alles wozu Monsieur sich zu betagt vorkam, bzw. seine Frau ihn einschätzte. Wenn die große Nachmittagshitze herrschte, zog er sich in sein Zimmer zurück, schuf Tag für Tag brauchbareres Material und war abends so müde, dass er endlich wieder Schlaf fand. Das tat ihm gut. Der Schlaf, die Arbeit, die Ablenkung. Es hielt ihn davon ab, zu grübeln, Vics Traktor nachzulaufen und grau zu werden.

Vic fiel seine Veränderung bald auf. Aus dem blassen Pariser Schriftsteller mit den Augenringen wurde bald ein goldener, fröhlicher Alleskönner, der von Madame in den höchsten Tönen gelobt wurde und manchmal ihre morgendlichen Frühstücke auf dem Weinberg verschlief - sich aber mit feinen, kleinen Texten, die er bis spät in die Nacht verfasst hatte, zu entschuldigen wusste. So ging das den Herbst, den Winter, wo sie sich ab und an im Café oder auf dem Gut ihrer Eltern trafen, und bis zum Frühjahr.

Dann stand er eines Tages stolz wie ein Spanier vor ihr auf dem Hof, als sie gerade den Luftdruck der Traktorreifen nachbesserte, ein Manuskript in den Händen. „Es wäre mir eine Ehre, die Erste zu sein, die es liest. Aber sag, Max Jordan, bin ich die Richtige?“

„Ich habe mich entschieden!“, erklärte er.

Sie gingen ins Haus und setzten sich ins große Wohnzimmer, Vic hatte sich sogar die Hände gewaschen, ehe sie das Papier berührte.

Ein Kinderbuch also. Sie begann gierig zu lesen, erkannte Worterfindungen, Metaphern und überhaupt überall Max wieder. Der saß erst ungeduldig vor ihr und hibbelte. Dann entdeckte er das Klavier und fragte: „Etwas musikalische Untermalung gefällig?“

Vic nickte nur, war in Gedanken ganz im Buch.

Max griff in die Tasten und spielte eine kleine Nachtmusik. Unweigerlich verbanden sich Noten und das gelesene Wort für Vic, ihre Beine wippten versonnen. Farben, Bilder, die ganze Geschichte spann sich ohne weiteres in ihrem Kopf aus. Mit Max war das einfach. Als sie zu Ende gelesen hatte und aufsah, war er noch immer ganz im Spiel versunken. Er sah so glücklich aus, er spielte so schön, war er schon immer so hübsch gewesen?

Klavierhände. Schriftstellerfinger. Wortzauberer durch und durch.

Ich werde warten, hatte er gesagt und: Ich habe mich entschieden.

Sie wusste noch nicht, ob er ihr reichen würde, ob sie ihn denn niemals satt haben könnte. Oder er sie. Dennoch stellte sie sich zum ersten Mal vor, wie es wäre, den weiteren Weg mit ihm gemeinsam zu gehen.

„Wunderschön, Max Jordan!“, sagte sie dann fest.

Er lachte. „Was gefällt dir am besten?“

„Mir gefällt alles. Das Warten hat sich gelohnt.“

„Ja, die Muse ist mir wieder hold. Ich werde das Manuskript noch heute meiner Lektorin schicken!“

Vic fragte sich, ob er denn wirklich dachte, sie hätte nur das Buch gemeint.

 

Nachtrag:

Die Adaption der Figuren und die Veröffentlichung dieses Textes wurden mir freundlicherweise von der wundervollen Nina George erlaubt.