Wohn- & Lebensgemeinschaft

Patienten, die unter Reaktiver Depression leiden, fühlen sich die meiste Zeit des Tages wie ein Tier im Käfig.

Ich weiß noch ganz genau, wie ich als kleines Mädchen vor den Tigergehegen des städtischen Zoos stand und die Raubkatzen an den Gittern nervös auf- und abhuschen sah. Als sich unsere Blicke trafen, dachte ich nur: „Ich verstehe dich so gut.“

Warten, darin war ich so schlecht und gerade deswegen immerzu dazu verflucht. Geduld hieß mein Gegner, der mich fragte: „Wann geht das Leben endlich los?“

 

Dass dieses Gefühl einen Namen hat, Verhaltensmuster und Behandlungsmethoden erfuhr ich fast 20 Jahre später. Was für eine Offenbarung! Die basiserschütternde Umstrukturierung meines Lebens folgte unweigerlich. Ich wütete - wie ein Tiger der aus dem Käfig ausbricht. Mit meinem langjährigen Liebhaber machte ich Schluss, suchte Trost in den Armen eines anderen, trennte mich wenige aber bewegte Monate später. Ich drehte völlig durch, krempelte mein Leben um, entrümpelte meine Wohnung, meinen Alltag, meinen Freundeskreis. Dann schrieb ich das Buch zu Ende, dass ich anderthalb Jahre davor vergraben hatte. Kurz darauf fand mich ein Verlag.

 

Seither existiert kaum noch diese Langeweile in meinem Leben, die fast die ersten 24 Jahre stetig mein Bewusstsein beherrschte. Neue Bekanntschaften kamen und gingen, bestehende blühten auf. Meine langjährige Freundschaft zu Sophie erlebt Jahr für Jahr mehr Tiefe. Diana, die Frau meines Bruders, nenne ich mittlerweile meine Schwester im Geiste.

 

Ich lernte zudem andere Autoren kennen und sofort lieben. Nachdem ich sie en persona traf, platzte ein Knoten in meinem Kopf und mir nichts-dir nichts war ich dazu fähig, das andere Buch zu Ende zu schreiben, das ich vor fast sieben Jahren vergraben hatte. Derselbe Verlag fand es.

 

Ich erlebte schließlich jene Beschleunigung, auf die ich so sehr gewartet und offenbar hingearbeitet hatte!

Dennoch ereilen mich einstweilen Rückfälle. Bisher gab es zwei lange Phase, die alte Dämonen aufscheuchten, ohne dass ich sie als solche wiedererkannte – darum erschien mir diese Zeit auch so zermürbend. Hartnäckige Selbstzweifel kamen zurück und das auf viel höherem Niveau. Immerhin jammere ich nicht nur auf Erste-Welt-Ebene sondern in der Premium-Klassifizierung: Hat begonnen, ihren Traum zu leben.

 

Mein Feind scheint noch immer die Geduld zu sein, doch mittlerweile bezeichne ich das zwischen uns gerne als Hassliebe, die oftmals die Muse zu einer Menage a trois anlockt – und ich dachte lange Zeit, die sei eine zutiefst launische Geliebte! Dabei fühlt sie sich genauso von Chaos, Drama und gutem Essen angezogen wie ich. Nur mit der Depression verträgt sie sich eben nicht so gut. Doch Geduld fand ein Arrangement zwischen den beiden, was uns vier gütlich stimmte.

 

So leben wir also, meine Depression, Geduld, Muse und der Rest, der dann nach von mir übrig ist.

 

(Fortsetzung folgt ...)